Gastbeitrag von Anonym.
Vor der Demo ist nach der Demo – oder war es andersherum? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß auch nicht mehr, ob das Konzept der Montagsmärsche grundsätzlich Sinn macht, das ewige Mahnwachetrotten durch die Innenstädte, das Okkupieren von öffentlichen Plätzen mit Zelten, diese Hartnäckigkeit der ‚Revolution jetzt‘-Heroen und Heroinen. Mir persönlich fehlt ein normaler Alltag, aus dem ich ausbrechen könnte, der in verlässlichem Rhythmus Wochenenden und Feierabende produziert, der mir Aktivismus erlaubt wie anderen Menschen einen Sonntagsspaziergang. Der dauernde Aufruf zu Demonstrationen ballert regelmäßig all die kleinen Erledigungen weg, zu denen mich mein prekärer und unübersichtlicher Alltag eigentlich zwingt. Aber auch mit geregeltem Arbeitsalltag ist ein totales politisches Engagement nur auf Kosten des Privatlebens – einige würden sagen: des eigentlichen Lebens – zu realisieren.
Doch dann kommt wieder ein Aufruf, und wieder ein Protest und man muss für die anwesende Presse Statisten-Kulisse und ‚die-Straße-ist-massig‘-Evidenzen produzieren, damit im glücklichsten Fall ein kurzes Bewegtbild über den Ether fliegt. Es bleibt dem einzelnen Demonstranten wohl nicht mal mehr ein Wochenende Zeit, das ‚Empört Euch‘-Manifest selbst zu lesen, denn dauernd werden – besonders jetzt im Wahlkampf – die Aktionen dramatisch zur Schicksalsfrage hochgepusht, um wieder und wieder zu mobilisieren. Ich bin kein Twitterer und News-Junkie, der diesen Stil goutiert. Ich fühle mich inzwischen regelrecht verarscht. Diese wiederholte Zuspitzung beleidigt meine Intelligenz: Wenn jeder Tag entscheidet, wären wir längst tot.
Und der Aktionismus wird nicht mal abgestimmt, denn zahlreiche Gruppierungen, Vereine, Lobbyverbände, etc. rufen jedes verdammte Wochenende zu ihren Kundgebungen auf, obwohl am anderen Ende der Stadt der Aufstand bereits angezettelt wird. Jeder will Akteur sein, etwas proklamieren und hinter sich Straßenzüge versammeln – in Hamburg selbst einzelne spießige Anwälte. Eine Ungeschlossenheit mit teilweise zynischer Absicht – wie im Falle der ‚Digitalen Gesellschaft‘, die Veranstaltungen mit Piraten-Beteiligung terminlich doppelt und damit einen zerfaserten Protest vorsätzlich in Kauf nimmt.
Das ist alles sehr sehr weltfremd und hat mit dem Alltag des normalen, nebenberuflichen Staatsbürgers wenig bis gar nichts zu tun. Der alte abfällige Spruch vom „Berufsdemonstranten“ enthält leider ein kleines Stückchen Wahrheit. Es bleibt Wunschdenken, dass die Masse in ihrem ausgefüllten Leben für Aktivisten Jump ’n‘ Run spielt. Es wird sich in sinkenden Teilnehmerzahlen niederschlagen. Irgendwann haben wir ähnlich viele Initiativen wie Bürger mit plötzlicher Profilneurose. Alte Linke Spalter, Visionäre im Nebel des historischen Bildungsdefizits.
Und dann sieht man ein Bild von Merkel an der Straße stehen.
Und man weiß, Mutti will nur, dass du täglich ihr Pausenbrot ißt, dass du nun endlich sanft zur Ruhe kommst. Sie schubst dich gutmütig in die Federn deiner vier Wände, drückt dich lächelnd in den Bürostuhl und will von den neoliberalen Strichern in ihrem Kabinett nichts mehr hören. Denn die Freunde der Familie halten den Laden zusammen und haben für Kreditkartenkonten gesorgt, sie waren immer Gönner der großbürgerlichen Sehnsucht, von der Du jetzt träumen solltest. Man fährt mit dem Fahrrad vorbei an Plakaten, die auf Programm konsequent verzichten, dir paternalistisch-maternalistisch adrette Kümmerer Feil bieten, ‚Wählen sie diese Person: Sie will, dass sie sich wohl fühlen und hat gelernt, wie man sich herrichtet und schminkt‘, sagen sie dir, ‚Wählen Sie Menschen, die sich anziehen können‘. Und es kommen dir Fratzen aus deinem Bekanntenkreis in den Sinn, die ihre unüberlegte Zustimmung später für eine Wahl halten, die nie Signale nach oben geben wollten, sondern sich irritiert wünschen, dass all die nervigen Mäkler und Kritiker endlich mit brutaler Härte korrigiert werden, nicht die Legislative und die Executive dieses Landes sollten sich an Vorstellungen der Bürger orientieren. Das selbstständige Denken war schon immer ein vaterlandsloser Gesell im obrigkeitsgläubigen Deutschland.
Dieser einlullende Polit-Pop macht aus angeblich Erwachsenen in diesem Land erneut kleine, müde Kinder, die am liebsten noch heute zurück in den Geburtskanal kriechen würden, um ohne komplizierte Wirklichkeit da draußen im wohlig Warmen an ihren Daumen sich hoch zu nuckeln. Seht, sie schließen bereits die Augen, ihre Nabelschnur dockt an. Es wird endlich Zeit, dass ihr Wirt stirbt.
Und ich habe dieses Land wohl verdient, wenn ich nicht auf die nächste Demo gehe. Aber zumindest weiß ich jetzt, dass ich am 22.09. wählen muss. Ich muss verhindern, dass die Zahl der berechtigten Proteste steigt. Es reicht mir langsam.
Danke für die Aufmerksamkeit.
// Das mit dem Gastbeitrag an dieser Stelle war meine Idee und bleibt die Ausnahme. mic ρ