Trotz Feiertag: Einheit ist keine deutsche Tugend mehr

Es war wieder Tag der deutschen Einheit – manche behaupten zum fünfundzwanzigsten Mal, andere sehen historische Parallelen bis hin zu 1871, 1848, Hambacher Fest und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Was an dieser alten Idee der deutschen Einheit für mich bemerkenswert ist: Sie war oft ein Wunsch, der sich nach innen richtete, da sie scheinbar immer gefährdet war.

Sei es unter den mittelalterlichen Kaisern, die im Reich nach innen für Frieden zu sorgen hatten, sei es in der Kleinstaaterei mit zahlreichen Fürstentümern, die sich dem Gemeinsamen entgegenstellten oder den zwei deutschen Staaten als Stellvertretern im kalten Krieg, die vor 25 Jahren wieder zusammen fanden. In unserer offiziellen Hymne ist das erste Wort immer noch „Einigkeit“ und kündet von diesen Kämpfen und unerfüllten Wünschen nach innen.

Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele zu dieser Anstrengung nach innen. Der Sozialimperialismus des Kaiserreichs im 19. Und 20. Jahrhundert operierte für den Zusammenhalt mit äußeren Feinden und besetzte mit dem im europäischen  Imperialismus üblichen zivilisatorischen Sendungsbewusstsein einer Kulturnation Kolonien und beging damit viele Verbrechen im Namen einer angeblichen deutschen Einheitlichkeit. Der Zusammenbruch des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn riss den Kaiser des deutschen Reiches in den Ersten Weltkrieg, da er die Einheit des Nachbarreiches als wertvoll garantierte. Auch der Zweite Weltkrieg als aggressive Expansion begann mit dem Anschluss des teilweise deutschsprachigen Sudetenlandes und wurde später mit dem Narrativ „Österreich Heim ins Reich“ fortgesetzt. Über diese territorialen Ansprüche ist das heutige Deutschland hoffentlich hinweg; über das nationalistische Sendungsbewusstsein nach außen und innen leider noch lange nicht.

Besonders in der Europapolitik und in der Flüchtlingskrise zeigt sich derzeit, wie sehr die einstige Idee von Einheit als wünschenswerte Gemeinsamkeit, als Wunsch nach innerem Frieden und dem Konsens trotz pluraler Gegebenheiten verloren ging.

Flüchtlingskrise

Die (nie existierende homogene) deutsche Identität wird von rechten Parteien und Bewegungen wieder anhand eines äußeren Feindes inszeniert. Alles Fremde, der Islam und eben jene Menschen, die das künstliche Konstrukt Deutschland historisch als etwas immer schon Werdendes verstehen, werden als Bedrohung desselben hochstilisiert. Besonders in den Freistaaten Sachsen und Bayern pervertiert man die Einheit als Abgrenzung gegen alles andere, als territoriale Abschottung. Entgegen der deutschen Idee, sich selbst in etwas größeres zu integrieren, in die föderale Bundesrepublik, in die föderale Europäische Union, in eine gemeinsame Idee von Humanismus, in eine plurale Gesellschaft mit gemeinsamen Werten wie Recht und Freiheit. Die alte Erkenntnis, dass Einheit immer einer selbst-integrieren Bemühung bedarf und für den inneren Friedens auch äußere Konflikte zu überwinden sind, ist in Deutschland heute mehr gefährdet als in den letzten 25 Jahren zuvor.

Europapolitik

Neben dieser inneren Verödung der deutschen Idee einer gemeinsamen Überwindung von Grenzen und Trennendem gibt es auch ein neues äußeres Sendungsbewusstsein, das mir persönlich komisch nationalistisch aufstößt. Das deutsche Selbstbewusstsein, das sich auf die deutsche und europäische Einigung gründet, wird neorealistisch zu Machtpolitik missbraucht und mündet in einer neuen, hässlichen Imperialistischen Haltung, die anderen Ländern eine deutsche zivilisatorische Überlegenheit vorhält und ihnen Regeln oktroyieren will. Die deutsche Außenpolitik hebt moralisch und besserwisserisch den Zeigefinger gegenüber anderen Mitgliedern des Euroraums und der Europäischen Union. So geschehen gegenüber Griechenland und anderen südeuropäischen Staaten und auch in Sachen Flüchtlingspolitik, in der man sich komisch als Volk der Bessermenschen mit einer hoch entwickelten „Willkommenskultur“ gebärt. Diese Wendung hin zu einem sich überhöhenden nationalen Selbstbewusstsein trennt uns und gefährdet die Einheit Europas.

Zugespitzt formuliert

Auch wenn wir uns für die Einigung heute wieder feiern, haben wir die daraus entstandene und auch vorher bestehende Identität inzwischen verloren. Bereits 25 Jahre nach der Wende ist die nötige stete Bemühung um eine Einheit keine Tugend mehr. Wir Deutschen gewinnen unsere Identität wieder auf Kosten anderer, durch eine selbstgefällige Abgrenzung nach außen, durch eine Ausgrenzung von Gruppen im Innern und durch eine neue unerträgliche Provinzialität, die diesem Land und seiner teils positiven Geschichte nicht würdig ist.

Wenn nun am Tag der deutschen Einheit rechte Gruppen und Parteien landesweit wie selbstverständlich ihre Kundgebungen organisieren, müssen wir befürchten, dass in diesem Land vielerorts keine Einheit gestaltet wird und dass das Spalten wieder überhand nimmt.