Wir tun immer so politisch…
…aber haben wir überhaupt einen Einfluss auf die Diskurse unserer Zeit?
Wir setzen uns leidenschaftlich für ein bestimmtes Thema ein und müssen dabei bitter beobachten, dass wir nicht nur unserer eigenen Meinung zu Reichweite und Relevanz verhelfen: Sobald wir öffentlich für eine Seite Partei ergreifen, stärken wir auch die Gegenseite in Ihrer Bedeutung und verhelfen ihr zu mehr Aufmerksamkeit.
Viele meiner Freunde pflegen inzwischen die Haltung: ‚Nichtmal ignorieren‘.
Aber dies wird niemanden überzeugen. Wer das Versagen der kulturellen Eliten studieren möchte, der kann in dem Buch „1913“ von Florian Illies die Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg beobachten.
Die Hoffnung auf das Prinzip ‚Schweigespirale‚ ist vergebens. Selbst wenn eine gefühlte Mehrheit für sich eine ausgewogene Haltung gefunden hat und diese auch unerschrocken kommuniziert, werden die Unbelehrbaren flamen und unsere Äußerungen trollen. Social Spambots durchsuchen bereits unsere Beiträge nach den falschen Stichworten und kennen in Ihrer Interaktion keinen sinnvollen Dialog mehr. Für mich stehen diese Bots mit ihren Automatismen symbolisch für eine scheiternde Kommunikation mit vielen Teilen unserer Gesellschaft.
Und leider vermute ich, dass sich die eskalierende Auseinandersetzung für alle Beteiligten weiterhin lohnt: Sie gewinnen daraus ihr Selbstverständnis und Ihre Identität, denn für beides hat unsere versnobte bürgerliche Gesellschaft schon lange kein Angebot mehr. Einen gut situierten Bürger in Hamburg-Eppendorf mit Karten für die Elbphilharmonie interessiert nicht, ob andere Menschen für sich eine sinnvolle Rolle in diesem Land finden, geschweige denn eine Wohnung, für die jene Prachtbau-Ausgaben im sozialen Wohnungsbau wohl gesorgt hätte. Hier darf man den Begriff „Spätrömische Dekadenz“ gerne mal in Richtung des Establishments wenden.
Die Orientierungslosigkeit und Verunsicherung der Menschen nötigt sie, Feinde zu konstruieren, bis das dadurch stetig zerstörte Vertrauen ihnen letztlich recht gibt. Eine tragische self-fulfilling Prophecy, an der alle Seiten teilhaben.
Nicht erst seit Pegida wissen wir, dass eine allgemeine Orientierungslosigkeit hoch politisch werden kann, auch im eigentlich bildungsbürgerlichen Milieu. Die deutsche und österreichische Geschichte kennt die Folgen solcher Identitätskrisen aus zwei selbst verschuldeten Weltkriegen. Die Orientierungslosigkeit hat inzwischen sogar noch zugenommen. Die sogenannte „Postmoderne“ löst laut Jean-François Lyotard die’Großen Erzählungen‘ auf, die uns einst noch Halt gaben und mit Michel Foucault ahnen wir, dass gewisse Diskurse unsere Welt dennoch stark strukturieren. Zumindest ich weiß dies und darf daraus etwas bildungsprivilegiert meine Schlüsse ziehen. Ich kann diese Auflösung als meine Freiheit genießen und dennoch gesellschaftskritisch sein. Doch diese gebildete Perspektive steht nicht jedem Menschen zu Verfügung.
Der Umgang mit dieser Komplexität der Postmoderne wird inzwischen immer dezentraler. Ein Hinweis darauf ist zum Beispiel das Misstrauen gegenüber den alten zentralen Medienkanälen, die sich in dem unsäglichen Begriff „Lügenpresse“ ausdrückt.
Die Menschen retten sich für ihre Sinnproduktion in manchen Fällen in eine extreme Individualität, aber dies gelingt selbstverständlich nicht jedem in diesem Land und bleibt eher ein Privileg junger Städter. Und deshalb gibt es trotz all der Vereinzelung weiterhin diesen großen Wunsch nach einer gemeinsamen, kollektiven Schlagkraft gegen „irgendetwas“, um noch irgendeine Rolle in dieser Welt zu spielen und sich dies auch wirkmächtig zu beweisen.* Die politischen Akteure versuchen derzeit völlig abstrakte Diskurse zu treiben, um die Menschen hinter sich zu versammeln. Sie versuchen auf der Ebene niederster Regungen Gemeinsamkeiten zu betonen, um in dieser sich längst verselbstständigenden Welt scheinbar kollektiv zu agieren. Sie eskalieren mit allgemeinen Emotionen und pauschalen Stoßrichtungen und halten sich dabei für Handelnde, obwohl sie hier nur Diener eines sich selbst treibenden Diskurses sind.
Dass gerade das Konzept ‚Wahrheit‘ wieder fröhlich reproduziert wird, ist hierbei kein Zufall, sondern ein deutliches Symptom. Die Idee einer ‚puren Wahrheit‘ und die Behauptung ihrer Gegenteile, wie z.B. der ‚Lüge‘, macht die Sehnsucht nach dieser so endgültig ordnenden Instanz überdeutlich und treibt alle anderen Diskurse weiter an.
Dabei schien das Konzept der Wahrheit längst gebrochen. Die Zeichen und Schatten sind in der Semiotik, seit dem Linguistic Turn, seit Aristoteles in ihrer Aussagekraft diskreditiert, unsere Kommunikation nur noch von Ideen durchwirkt, die nichts mit der vermeintlichen Realität hinter unseren Worten und Wahrnehmungen zu tun haben müssen. Aber diese intellektuelle Reflexion scheint nur noch wenige Menschen in diesem Land zu erreichen. Denn entgegen den Versprechungen einer hürdenlosen Internetbildung dominieren die existentiellen Sorgen und Ängste und besonders die Identitätskrisen in Zeiten einer individualisierten Sinnproduktion. Ich nenne die daraus folgenden kommunikativen Handlungen inzwischen kurz „Selbstrettung“, denn die Menschen ringen um eine souveräne Haltung und dieses immer häufiger ohne Reue auch auf Kosten ihrer Mitmenschen.
Kleiner Exkurs: Letzteres will ich hier mal anhand der allgemeinen Linken durchdeklinieren.
Für die Linke der letzten eineinhalb Jahrhunderte war der Kampf ein zentrales Moment. Die neuen Kapitalisten schufen Elend und Lumpenproletariat, beuteten die Ressource Mensch brutal und ohne Rücksicht aus. Die Akkumulation von Produktionsmitteln und Macht schien keine Grenzen zu kennen und die Hoffnung und Prognose der linken Theoretiker war es, dass sich irgendwann ein internationales Proletariat unter der zunehmend drückenden Last erhebt, sich selbst als ‚Subjekt der Geschichte‘ erkennt und die Revolution gegen die Kapitalisten endlich angeht. Dieses einfache Narrativ hatte zur damaligen Zeit einen Vorteil, den es heute nicht mehr gibt: Man konnte noch mit dem Finger auf seine konkreten Peiniger zeigen, „Sieh hin, dort ist ein Kapitalist mit Zylinder und Monokel!“.
Seither braucht es für die Linken weiter dieses verortbare Böse, das man kompromisslos bekämpfen kann. Doch dieses wurde mit der Zeit zunehmend abstrakter, denn heutzutage ist längst jeder einzelne von uns ein kleiner Kapitalist. Auch wenn es Ausnahmen geben mag: Der Spätkapitalismus ist geprägt von diffusen Akteuren, unendlichen, alltäglichen Berührungspunkten und einem blühenden Konsum bis in die untersten Schichten und in den kleinsten Klick auf unserem Handy hinein. Das letzt bisschen Reinheit wurde uns schließlich durch die Postmoderne – diesem Che Guevara-Sticker auf unserem iPhone – genommen: Wir sind nun alle irgendwie Mischformen, selbst Bill Gates widmet sich der Bekämpfung von AIDS in Afrika. Gegen wen will man da noch konkret kämpfen?
Seitdem sucht die Linke weiter nach Personen, Ereignissen und Äußerungen, die ihren Zorn aktualisieren können, die ihr weiter Selbstversicherung ermöglichen, obwohl die Welt viel komplexer ist, als einige alte Modelle von Gut und Böse, von ‚power-bloc‘ und ‚the people‘. Der Kampf ist eine Erinnerung geworden, die man durch neue emotionale Ausbrüche weiter für sich wachhalten muss. Dafür braucht man auch heute noch konkrete Feinde und Opfer, an denen man die eigenen Diskurse neu durchexerzieren kann. Denn die potenziell freie Bildung in all unseren Online-Archiven verbreitet sich nicht von selbst: Wir brauchen dafür neue Anlässe und die Linke einen immer wieder reaktivierten emotionalen Rausch und duesen neu inszenierten Kampfeswillen, auch wenn der eigentliche Feind als System weiter hinter den Kulissen, diffus und relativ unangreifbar bleibt.
Es ist durchaus problematisch, wenn eine Bewegung über die oben erwähnten niederen Instinkte, über den Kampf, den Fanatismus und die offene Skrupellosigkeit Menschen hinter sich versammeln will. Wir wählen für die Reproduktion der komischen Idee einer puren Wahrheit ausgerechnet unsere eigenen Emotionen, dieser absurde Widerspruch hat seine Folgen. All die martialische Agitation, diese Suche nach neuen Gegnern und Feindbildern hat häufig nur noch einen Selbstzweck und dient der Selbstrettung in unserer kompliziert frontlosen Zeit. Und sie kennt entgegen der selbstherrlichen Einschätzung der Beteiligten keine politische Seite mehr, der sie vornehmlich dient, denn sie pflegt letztlich nur extreme Gefühle wie Hass und Verachtung, zudem immer häufiger erschreckend offen geäußerte Vernichtungsphantasien.
Wir können diesen Diskurs niemals kontrollieren, der sich aus dieser Emotionalisierung ergibt, denn jeder Kampf treibt ihn nur weiter an und macht ihn noch stärker. Er produziert mehr und mehr Kränkungen und kennt dabei letztlich nur die Überwältigung aller Andersgesinnter als eine Lösung, ein Weg, der in einer Demokratie niemals sein darf.
Es ist hierbei müßig, nach Henne und Ei zu fragen und es ist ein Fallstrick, hier mit Details und Fakten zu argumentieren, wenn man verstanden hat, was ich mit dem Wahrheitsdiskurs meine, der ebenfalls keiner Seite alleine dient. Ich bin mir leider sicher, viele Menschen werden sich dennoch für gerecht halten, da sie die zentralen Hypothesen dieses Textes – „Emotionalisierung der Wahrheit“ und „Selbstrettung als Diskurstreiber“ – überlesen.
Aber wie könnte es weitergehen?
Ich gehe hier zunächst von mir selbst aus: Man sollte die Emotionalisierung seinerseits vermeiden und bei Auseinandersetzungen schlicht mitdenken, dass Menschen immer auch ein Identitätsproblem mitverhandeln, denn es geht entgegen des allgemeinen Diskurses nur selten um die Wahrheit. Man sollte den Menschen zudem Respekt für eine andere Haltung abringen, wenn man sie nicht überzeugen kann. Für wen nur eine einzige Sicht gelten kann, der ist für die späte Moderne und die Demokratie nicht geeignet.
Die allgemeine Linke hat hier theoretisch einen Vorteil: Sie glaubt an die Vielfalt und kennt bereits mehr Formen der Identitätsstiftung in der Misch-Moderne, als konservative und staatszentrierte oder nationalistische Kreise. Wenn sie nicht erneut eine krude Orthodoxie etabliert, die nach strengen Regeln exkludiert, statt Brücken zu bauen, hat sie in der mehrheitlichen Stadtbevölkerung Deutschlands das größere Potenzial, eine neue Orientierung zu bieten. Leider ist in ihren Reihen die alte Strenge zu einem rhetorischen Brauchtum geworden und die Jagd auf das personifizierte Böse eine veraltete politische Pose ohne Charme in dieser komplizierteren Postmoderne. Sollte sie erlauben, dass das Individuum politisch sein kann, ohne einer strengen Wahrheit der Altvorderen zu folgen, ohne sich einer orthodoxen oder sprachlichen Erziehung unterzuordnen, würde sie dieser Welt einen sehr großen Gefallen tun.
Leider glaube ich nicht, dass sie intelligent und reif genug dafür ist. Sie wird lieber die Selbstrettung mit alten Narrativen und Diskursen betreiben. Sie wird sich dabei gut fühlen, im Reinen mit sich; aber darum geht es leider nicht mehr.
Hier schlägt der getriebene Diskurs längst zurück: Die Rechten wünschen sich ja ebenfalls reine Identitäten und eine Form von Überlegenheit – von Volk, Nation und Weihnachtsmarkt. Und so sehr ich mir idealistisch wünsche, dass wir alle letztlich Weltbürger sind, müssen sich hier auch die Linken endlich um eine Vision für dieses demokratisch gefasste Deutschland bemühen. Eine politische Strategie ohne Identitätsangebot, die keine Selbstachtung und auch keine Zugehörigkeit ermöglicht, wird den tiefliegenden emotionalen Ursachen des kommenden Rechtsrucks einfach nicht gerecht. Wenn es für die kommende Bundestagswahl keine Kampagnen und kein zivilgesellschaftliches Bemühen um eine solche Vision der Gemeinsamkeit und der Achtung gibt und wir uns weiter in unserer identitätsstiftenden Spaltung vergraben, machen wir einen ganz großen Fehler. Hier ein kluge Perspektive zu formulieren, die keine Abgrenzung, sondern Integration bedeutet, wäre die große Kunst, die ich im Moment leider niemandem in Deutschland zutraue.
// *Ich vermeide hier bewusst das Reizwort ‚Faschismus‘.