Über mic ρ

Basis

Blogschau: Unser Verhältnis zu Charlie Hebdo und zur Satire an sich.

Vor ein paar Tagen habe ich noch zur unterentwickelten Netz-Zivilgesellschaft lamentiert, heute will ich meinen eigenen Ansprüchen folgen und ein paar fremde Blogbeiträge hervorheben. Der erste Schock über die Anschläge, der auch mich zu einem kleinen impulsiven Beitrag verleitet hat, ist vorbei und das Netz zeigt, wie wichtig es in seiner Breite ist, in der nicht nur alte und neue Institutionen die Diskurse unserer Tage führen, sondern Privatpersonen mitdenken und uns Orientierung und Diskussionsstoff bieten. Ein paar Beiträge, die früh gegen den ersten Reflex des #JesuisCharlie formulierten, möchte ich erwähnen. Ich hatte schlicht Glück, auf sie zu stoßen und es gibt da draußen sicher noch mehr.

Julia relativiert, bzw. präzisiert ihre Teilnahme am globalen Internetmem #JesuisCharlie, indem sie auf die Verkürzung dieses Solidaritätsreflexes hinweist, den Stil von Charlie Hebdo zurückweist und für sich nicht den selben Mut beansprucht, den manche Publikationen mit provozierenden Karikaturen sehr offensichtlich haben. Sie kommt am Ende zu dem schönen Schluss:

Die Welt ist komplexer denn je. Und das ist ihre derzeit einzige Stärke.

Natalie kann sich mit den bisherigen Inhalten von Charlie Hebdo nicht wirklich identifizieren und ist deshalb nicht #JesuisCharlie. Für sie treibt auch die Satire Diskurse voran, die bei den behandelten Minderheiten über eine Selbstironie unserer Gesellschaft hinaus gehen. Sie schreibt zur Satire einen interessanten, diskussionswürdigen Satz:

Gleichbehandlung im Humor, in der Satire, funktioniert nur dann, wenn auch in der Realität Gleichwertigkeit und Gleichbehandlung bestehen. Und das tun sie nicht.

Fabienne geht mit ihrem Beitrag in eine ähnliche, satirerelativierende Richtung und meint

Rassistische, sexistische, homophobe Beiträge der Zeitschrift bewegten sich an der Grenze, die in einer Demokratie zwischen Pressefreiheit und Hetze gezogen wird.

Trifft Satire häufig die Schwachen unserer Gesellschaft? oder bauen wir die Tabus selbst auf, die sie dann ihrer Logik folgend wieder brechen muss? Das mit der möglichen Hetze ist eine sehr aktuelle und relevante Frage, wenn sich Medien-Parallelgesellschaften wie beispielsweise Pegida und manch andere Verschwörungstheoretiker in ihren Echo Chambers hochschaukeln.

Stefan kritisiert hier zunächst andere. Er erkennt, wie nun deutsche Verleger das Attentat für eine Eigenwerbung nutzen. Für ihn kann Satire auch unpräzise und zudem instrumentalisierbar sein und er findet es infam, dass der Mord an den 12 Franzosen nun in das Selbstmitleid der – von Pegida als „Lügenpresse“ bezeichneten – deutschen Verlage getunkt wird. Deshalb fühlt er sich mahnend in die Logik der Marschierenden in Dresden ein, wenn er schreibt:

In dieser Sicht ist „Charlie Hebdo“ das Gegenteil von „Lügenpresse“; seine Mitarbeiter zahlten für ihren Mut, anders als die „Lügenpresse“ die Wahrheit zu sagen, mit dem Leben.

Für mich zeigt er damit auch, dass Empathie gegenüber Pegida und deren sehr extremen Positionen und deren Idee von Wahrheit sehr weh tun kann. Ich stimme Stefan aber zu, dass die Verlage sich hier haben mitreißen lassen und eher unklug agieren. Und ja: auch das kann Satire sein und es ist gar nicht schön.

Lesenswert finde ich weiterhin diesen Text von Philipp, der bezweifelt, dass #JesuisCharlie tatsächlich ein korrektes Bild unserer Gesellschaft wiedergibt. Denn ein paar krasse Jesus-Karrikaturen würden ein paar Wochen später wohl ebenfalls wieder zu großer Entrüstung hierzulande führen. Von totaler Toleranz kann gerade in diesen Zeiten in Europa nicht die Rede sein.

Ähnlich, aber mit etwas mehr Rant haben wir uns auf Netzrhetorik geäußert. Satire muss alles und jeden treffen, um gerecht zu sein, ist unser Credo. Sie ist nicht Teil unseres Staatswesens und wird doch in diesen Tagen derart propagiert. Eigentlich müsste sie wohl aus dem Untergrund heraus agieren. Sie hat nach den Attentaten viele falsche Freunde dazu gewonnen, für die sie sich schämen muss. Diese sollten ihr nächstes Zeil sein, so meine Meinung.

Das waren jetzt nur ein paar zufällige Fundstücke meinerseits. Vielleicht ergänze ich später noch weitere diskussionswürdige Texte. Gerne auch per Twitter oder Kommentar auf eure Haltungen und privaten Texte zum Thema hinweisen. Danke!

Integration ist eine Tätigkeit

Gerade lese ich von dem Anschlag auf das französische Satire-Magazin Charlie Hebdo. Zwölf Menschen wurden dort ermordet und die Berichterstatter sprechen von einem islamistischen Hintergrund. Ich bin in höchster Sorge, dass dieser Vorfall die Stimmung gegen Moslems aufheizen könnte und frage mich, wie wir eine solche Spirale des Hasses noch aufhalten können.

Dieses Verbrechen und auch die Marschmenschen in Dresden zeigen, wie abgekoppelt manche Milieus von der Moderne sind, wie viele verwirrte Menschen dieser Kontinent inzwischen beherbergt und wie sehr die Integrationsleistung unserer Gesellschaften sinkt.

Ich habe das erste Mal Angst vor der Dummheit der Menschen. Ich hoffe, sie finden ihr Selbst nie im Hass wieder, sondern in einer gemeinsamen Zukunft.

Ich verlasse mich da auf euch.

Integration ist eine Tätigkeit.

PS.: Hier noch etwas historische Bildung für umsonst.

Macht das Bloggen 2015 noch Sinn?

Um es vorweg zu nehmen: Ich meine nicht, werde aber trotzdem weitermachen. Im Folgenden ein paar Gründe, warum das Bloggen eigentlich keinen Sinn mehr macht.

Die ewigen Emanzipationsappelle

Wir hören in den letzten Jahren immer wieder mahnende Appelle, man solle wieder bloggen, am besten auf eigenen Servern, im Idealfall die Webseiten und Dienste selbst programmieren. Dies alles sei eine Frage der Unabhängigkeit von kommerziellen Plattformen, die jederzeit ihre Nutzungsbedingungen, ihre Funktionalität und ihr Erscheinungsbild ändern können. Es sei zudem der einzige Schutz vor möglichen Eingriffen, wenn Anbieter bei rechtlichen Umwägbarkeiten – wie z.B. Jugendschutz oder Urheberrecht – gewisse Äußerungen und Inhalte vorauseilend oder widerstandslos löschen, sich im Zweifel lieber dem Druck von Industrie und Regierungen beugen. Im Großen und Ganzen entscheide sich mit autonomen Strukturen also die Zivilgesellschaft im Netz.

Die Netz-Zivilgesellschaft

Dem zugrunde liegt die Vermutung einer breiten, blühenden Geistes- und Kulturlandschaft, die zwar existent sei, aber sich nicht frei entfalten könne oder dies fahrlässig versäume, obwohl sie die Möglichkeit dazu (noch) hat. Man fordert dieser Annahme folgend ein selbstorganisiertes ‚Civil Society Building‘ analog beispielsweise zum fremdorganisierten ‚Nation Building‘ der United Nations, das belastbare Strukturen in sog. ‚Failed States‘ etablieren möchte. Es gibt diese breite, blühende Netz-Zivilgesellschaft in Deutschland jedoch nicht und daran ändert für mich auch der großartige Chaos Communication Congress Ende 2014 aka #31c3 nichts.

Eine Blogosphäre der Oldcomer

Eine Mitschuld hieran trägt für mich eben jene mahnende Netzgemeinde, die sich um den Nachwuchs eher wenig schert oder diesen gar als Konkurrenz klein hält. Der verächtliche Grundton im Netz, dieser Modus einer prophylaktischen Selbstbehauptung, kann probierendes, halbfertiges und lernendes Handeln niemals befähigen. Wenn etwas nicht ignoriert wird, dann übertönt oder zurechtgewiesen und man könnte dies auch offen als ‚Mackern‘ beim Namen nennen – ohne dass dies hier auf ein biologisches Geschlecht beschränkt wäre. Solch Absolutheit und Unerbittlichkeit lässt nur wenig Raum für vorsichtige Jugendarbeit, auch wenn in den Sonntagsreden anderes als wünschenswert umschrieben wird.

All die Großtöner der Netzgemeinde sollten sich mal fragen, welche Nonames, welche Leisetreter, welche Anfänger sie im Jahre 2014 persönlich gefördert haben. Nennt mir nur einen einzigen, der nicht bereits eurer bestehenden Peergroup entstammte. Ich kenne die Antwort und nehme euch eure Ernsthaftigkeit nicht mehr ab. Ich glaube nicht, dass euch an einer breiteren Zivilgesellschaft gelegen ist, die über euch hinaus geht.

Hier dreht man sich personell nur noch im Kreis und nennt dies wachsende Vernetzung. Man genügt sich selbst.

Die unmögliche Varianz

Zu dieser kritischen Betrachtung gehört für mich die imho absurde Idee einer rhetorischen Vielfalt, die in vielen Diskussionen schlicht unmöglich ist. Die politische Haltung ist bei vielen Themen bereits mit vier fünf möglichen Positionen abgefrühstückt, nur noch die Detailtiefe, ein möglicher Neuigkeits- und Nachrichtenwert oder die spezielle erzählerische Aufbereitung können in Beiträgen variieren. Ein Sascha Lobo hat immer noch ein gutes Gespür für kommende relevante Diskurse unserer modernen Lebenswelt: Wieso etwas erneut formulieren, das jemand mit phantastrilliardischer Reichweite bereits verfasst und verbreitet hat? In dieser Hinsicht sind wir längst in einem Oligopol mit parasozialen Stellvertretern angekommen und die vermutete, breite zivilgesellschaftliche Netzgemeinde mit vermeintlich unüberschaubaren Untiefen bleibt ein brauchbares Narrativ für einige wenige Player, eine potemkinsche Drohkulisse längst etablierter Granden. Wer will hier noch eine Rolle spielen, wenn diese längst verteilt wurde. Die Redundanz der politischen Positionen lähmt eine zivilgesellschaftliche Blogosphäre oder sorgt im schlimmsten Fall sogar zu Zickereien zwischen konkurrierenden Wichtigtuern, was ebenfalls eine Lähmung bedeutet.

Das gescheiterte Wachstum

Dort, wo die Netz-Zivilgesellschaft tatsächlich Strukturen dazu gewann, Nachwuchsarbeit übernahm und über den Aktivismus und spontane Allianzen hinaus ging, wurde dies nicht nur belächelt, sondern gerne ignoriert oder vernichtend in Richtung Mülltonne gelobt. So geschehen bei der Piratenpartei, der man vieles vorwerfen kann, aber nicht zivilgesellschaftlichen Unfleiß und mangelnde Freiwilligen- und Basisarbeit. Netzpolitik.org hält es da meiner Erfahrung nach lieber nah mit den Grünen und auch Digital Courage sprach auf Bühnen selbst im Bundestagswahlkampf lieber die FDP und etablierte Parteien als mögliche Verbündete an, statt sich über den Nachwuchs und die zusätzlichen Arbeiter der Netz-Zivilgesellschaft zu freuen. Padeluun schafft es bisher in jedem seiner Lauti-Beiträge, die Piraten indirekt zu dissen oder bewusst wegzuschweigen, dass ich langsam von persönlichen Motiven ausgehen muss. Danke für Deinen Einsatz, padeluun, aber in dieser Hinsicht bist Du ein Idiot.

So finden politische Menschen ihre produktiven Milieus und die kritische Masse für Aktionen auf seltenen Kongressen, Konferenzen oder eben in NGOs und Vereinen. Für eine Straßen-Demonstration gegen Überwachung reichten ca. 12.000 kritisch Technikbegeisterte leider nicht aus: Auf dem kurzen Protestmarsch am dritten Tag des 31c3, der komfortablerweise direkt vor dem Kongress-Zentrum begann, fanden sich nur 150 bis (optimistisch betrachtet) 200 Teilnehmer ein. Für mich ist dies ein krasser Hinweis auf die Selbstbezüglichkeit dieser Szene. Und auch wenn ich mich über die außerordentlich gute Presse-Arbeit des CCC immer wieder freue, muss ich warnen: Langsam bricht uns die Basis für Aktionen in netzfernen Öffentlichkeiten weg.

Nein, hier wächst keine eigenständige, wehrhafte Zivilgesellschaft, sondern uns erwarten in Zukunft die Kampagnen bestehender Akteure mit bestehenden Email- und Twitter-Abonnenten, denen man dann mit einem Klick oder einer Spende folgen kann. Irgendwann besitzen wir dann eine Art ADAC für Netzfahrer, der als Lobbyorganisation unsere Interessen gegenüber der Politik vertritt, jedoch keine meinungs-, äußerungs und aktionsstarken Individuen mehr kennt, die ihren eigenen Meinungsort betreiben und miteinander diese Gesellschaft diskutieren. Hier konsolidieren wir uns zu Tode, wenn wir nicht gleichzeitig an Befähigungsmilieus arbeiten. Wer von der Atmosphäre auf dem 31c3 begeistert war, sollte dieser Forderung folgen können. Wer nicht mal ne Stunde Zeit für ne Demo hat, ist längst in der Bequemlichkeit des Stellvertreter-Konzepts angekommen und glaubt in Sachen Zivilgesellschaft und Politik bereits an Arbeitsteilung. Das wäre fatal.

Zusammengefasst

Wenn man die Reichweite als Maßstab anlegt, macht das Bloggen derzeit keinen Sinn, denn es gibt wenig Interesse an Nachwuchs, geschweige denn genügend unerledigte Meinungen. Das Bloggen bleibt pures Privatvergnügen oder Nischensport, denn die meisten Menschen sind längst satt in ihrer derzeitigen Vernetzung und tauschen sich in feststehenden Runden aus. Eine lebendige Netz-Zivilgesellschaft wächst unter diesen Umständen eher schlecht und die offensichtlich bereits fortgeschrittene Institutionalisierung sorgt für feste Stellvertreter in den Debatten, die ihrerseits weniger einem Austausch, mehr einer Proklamation absoluter Meinungen ähneln. Die Netz-Zivilgesellschaft bleibt demnach ein Scheinriese, der zwar einzelne kämpferische Texte hervorbringt, aus der Nähe betrachtet aber zu einem kleinen, überschaubaren Kreis mit schwindender Basis wird, die nicht breit gefächert, nicht individuell aktiv und vor allem nur noch selten ehrenamtlich ist, wie es sich für eine unüberschaubare Zivilgesellschaft gehört.

Mein Tipp deshalb: Bloggt für euch selbst, oder bloggt mit anderen zusammen und schmiedet so eure eigenen Allianzen, vernetzt euch in der Peripherie, nicht mit dem Zentrum. Und verlasst euch nicht auf Gleichgesinnte unter den Etablierten: Sie sind an einer Förderung neuer Player in ihren angestammten Revieren höchstens höflich interessiert. Ein Wachstum der Netz-Zivilgesellschaft wäre für sie bereits mit dem nächsten Spendenerfolg erreicht. Um es zuzuspitzen: Die Idee einer eigenständigen, robusten und wehrhaften Gesellschaft hat zwar eine Lobby, aber leider keinen Nachwuchs mehr.

Bitte scheißt drauf und macht euer eigenes Ding, because this is not a game. Die derzeitige Zivilgesellschaft schafft es nicht mal mehr, eine verfassungsfeindliche Regierung aufzuhalten und sie braucht uns mehr denn je. Also veröffentlicht eure Meinung, stellt diese zur Diskussion und diskutiert andere Ansichten: Vernetzung und Bildung sind die wenigen Fortschritte, die wir in dieser komplexen Zeit anderen Epochen voraus haben.

Bildet unsere Zivilgesellschaft selbst.

Verlasst euch nicht mehr auf die Anderen.

PS.: Nein, dies ist nicht mein Blog. Ich habe andere.

Nachtrag: Hier sammeln sie irgendwas mit Blogs zu einer Preisverleihung zusammen.

Und noch ein paar Aufrufe zur Förderung der Blogkultur. Steffen Voß mit einem Appell „für eine bessere Blogkultur“ und Johnny Häusler erinnert an ein paar grundlegende Regeln, wie man kleine und große Blogs fördern könnte. Dort wird in den Kommentaren auch über ein Blogverzeichnis nachgedacht.

Wir brauchen mehr Verständnis für Expiraten

Ich habe hier schon lange nichts mehr geschrieben. Dies lag nicht in einer inneren Leere begründet, oder in einem Schock, da sich immer mehr Nasen der Nase nach vom lästigen Ballast parteiinterner Demokratie befreit haben. Große Nasen. Schnüffelnde Nasen. Nasen, die sich in das eigene Schnauben, den eigenen Wind hielten. Naseweise in platzenden Bubblegum-Blasen. Ich hatte andere Gründe für meinen Rückzug und nach der Vorstandszeit auch eine Pause geplant. So habe ich auch keine Ahnung, was in der Piratenpartei derzeit so los ist, sehe nur gelegentlich die Plakate meines Landesverbandes auf der Straße. Das ist sehr angenehm.

Aristokratie mit Internetanschluss

Es amüsiert mich jedoch gelegentlich, die ganzen Expiraten zu sehen, wie sie sich nicht verändern, nicht verändern konnten, den Abstand nicht fanden trotz ihrer ruhenden Mitgliedschaft. Wie einst tölpeln sie durch die Timelines und haben als Expiraten den gleichen Effekt auf unsere Partei wie vorher. Sie äußern sich zu allem, machen noch immer Politik auf Kosten und zum Schaden unseres abstrakten Konstrukts ‚Piratenpartei’. Das hat was von Aristokratie mit Internetanschluss. Die konstitutionelle Monarchie wurde ausgerufen und man hadert mit dem Pöbel in den Parlamenten. Und denkt doch heimlich darüber nach, eine monarchistische Partei zu gründen. Es ist schon alles sehr sehr lustig so aus der Ferne, aber natürlich auch sehr anstrengend für die derzeit Verantwortlichen bei den Piraten.

Die lauten Expiraten werden bleiben

Und macht euch keine Hoffnung: Nein, diese Menschen werden wir nicht los. Man könnte sich Internet-Guillotinen basteln und ihre Profilbilder köpfen und doch bliebe alles beim Alten. Lustig wäre dies, da sich ein Großteil dieses aristokratischen ‚Ersten Standes’ vor dem Austritt selbst in der Rolle des Robespierre sah und nur allzu gerne ein paar vermeintlich revolutionäre Säuberungen in der Partei vorgenommen hätte. Aber all dies ist keine Lösung. Wir haben weiter miteinander zu leben und es hat sich leider nichts durch die Austritte geändert. Der öffentliche Stunk ist der Gleiche, die Reichweite der Twittergranden ebenfalls, sie werden sogar weiterhin interviewt, statt unsere Repräsentanten. Die vernichtenden Kommentare und Interventionen gegen die Partei sind in der Öffentlichkeit weiterhin hoch effektiv und sehr folgenreich. Sollte es in dieser Hinsicht vorher noch eine Art Verantwortungsbewusstsein gegeben haben, so wurde dieses mit dem Austritt nun transparent abgelegt. Wenn sich schon nichts anderes verändert hat, kann man ja vielleicht dieser neuen Ehrlichkeit etwas Respekt zollen. Bravo! Brova!

Wir sitzen also weiterhin alle im selben Boot, nur dass sich einige wie eh und je für was Besseres halten und ihren anhaltenden Einfluss mit der Vernunft und Relevanz ihrer Äußerungen und Überlegungen verwechseln. Ich muss hier gestehen, dazu gehöre auch ich gelegentlich; fühle mich zum Glück aber schlecht dabei und finde auch keine gehässige Erfüllung oder gar eine Geisteshaltung, die mir den gemeinsamen politischen Ideen und Kämpfen irgendwie angemessen erscheint. Ich halte mich so gut es geht zurück und war damit zum Glück auch nie allein.

Die Kollateralschäden

Denn auch wenn die aristokratischen Expiraten gut sichtbar rummarodieren, muss man einen anderen Teil der Expiraten davon positiv abgrenzen, die einen anderen Weg gegangen sind. Diese Piraten im Geiste sind still verschwunden ohne sichtbare Revanche- und Kampf-Gelüste. Sie helfen sogar vereinzelt weiterhin bei Aktionen und bei ihren Themen, denen sie von Herz und Vernunft aus gönnen, dass sie in unserer politischen Landschaft eine Rolle spielen. Sie wollten damals neue Aktivisten sein, doch haben sich irgendwann kopfschüttelnd von uns entfernt, ohne dabei dem Projekt an sich schaden zu wollen, an ihm kleingeistig die eigenen Minderwertigkeitskomplexe ausleben zu müssen. Es gab diese Personen immer schon, doch ihr Denken in spontanen Themen-Allianzen und ihre Leistung in selbstloser Crowdtätigkeit war leider selten geeignet, in die erste Reihe dieser Partei vorzustoßen, um den gestörten Egomanen und Vortänzern eine eigene integrierende Persönlichkeit entgegenzusetzen.

Dieser lose aktivistische Zusammenhalt vor Ort und die stete Arbeit der lokalen Verbände an der Befähigung und Förderung neu-politischer Menschen wurde mit jedem neuen Arschlochtweet weiter zerstört.

Die chauvinistische Atmosphäre

(ich meine den Begriff hier ungegendert in seiner ursprünglichen französischen Bedeutung. Die chauvinistische Haltung hatte bei uns leider viele Ausprägungen, z.B. als Hexenjagd und offene Entwürdigung von Menschen; in der Produktion pauschaler Feindbilder und Stereotypen, die für Idioten verbale und körperliche Gewalt zu rechtfertigen schienen; als Filter Bubbles und Echo Chambers, die Auseinandersetzungen und fremde Perspektiven bereits im Vornherein für irrelevant erklärten; durch genetische XX-XY-Endbegründungen; bis hin zu Opferreflexen, in denen man jeden – selbst gemäßigten – Beitrag als Attacke auf das persönliche Seelenheil deutete und die Exkommunikation des Feindes forderte. Es gab regelrechte chauvinistische und moralische Internetmobs, die diese Tätigkeit mit Politik verwechselten und sich immer wieder auf einzelne Menschen einschossen. Es gab Menschen, die für sich fortlaufend Feinde brauchten und fanden, um sich über sie stellen zu können und ein chauvinistisches Hochgefühl zu erleben. Insgesamt ein Umfeld, in dem Dominanz gerne als entscheidender Faktor der Diskussion gelebt wurde, während für die Legitimation dieser unsäglichen Praxis tautologisch die eigene vermeintliche Überlegenheit angeführt wurde. All diese Phänomene wären sicher eine psychologische Doktorarbeit wert, zumindest empfiehlt sich für die Akteure eine nachhaltige therapeutische Reflektion und Ausbetreuung.)

und der offene Hass waren für uns vor Ort regelrechte Basisvernichtungswaffen. Und diese betrafen nicht irgendeine ebenfalls geltungssüchtige, komplexbehaftete Basis, sondern den konstruktiven, selbstlosen Teil der Aktiven, der mit der Vereinsmeierei und den politschen Parteien aus Gründen eher fremdelte, aber zu unserem Glück einer losen Vernetzung, wie man sie aus dem Internet kannte, und gemeinsamen politischen Anstrengungen gegenüber nicht abgeneigt war.

Die buckelige Twitterelite ist also weiterhin sehr präsent und an Bord, all die zarten Pflänzchen vor Ort wurden weggebombt. Ich würde gerade gerne am Denkmal des Unbekannten Bauernopfers dieser selbstgefälligen Aristokratie einen Kranz niederlegen und weinen. Schade, dass niemand der Honks das hier jemals zu lesen bekommt.

Ich bin mir zwar relativ sicher, dass viele der Selbstbezogenen und Altpiraten durch einen zunehmend mangelnden Kontakt zu dieser eher ephemeren und verteilten Basis, es einfach nicht besser wussten, was sie da zerstören. Dass sie das Konzept ‚Basisdemokratie’ zu dem absurden Anspruch umgedeutet haben, dass an ihrer Aristokratenmeinung niemand vorbeikommen darf, mag jedoch seinen Teil dazu beigetragen haben. Der Kollateralschaden all dieser selbstherrlichen und selbstgefälligen Kriege ist unmessbar, außer man kennt sich vor Ort aus und weiß, wie viele fragile, informelle Vernetzungen ausgelöscht wurden und hat dafür ein Gefühl entwickelt.

Auch wenn der alte Spruch ‚Themen statt Köpfe’ inzwischen seine berechtigte Relativierung erfahren hat, so hatten wir immer genügend erkennbare Themen, die neuen Köpfen vor Ort eine politische Heimat geboten haben und hätten. Die Kritik, dass einigen unserer Köpfe die wachsende örtliche Bereitschaft, sich für unsere Themen einzusetzen, völlig egal war, muss ich leider aufrecht erhalten. Das Ego war hier oft wichtiger als die Sache und in dieser Hinsicht werde ich weiterhin das Motto ‚Themen statt Köpfe’ nutzen. Entweder als pädagogische Parole ins Gesicht der Protagonisten oder als Entschuldigung für all die alten Zöpfe, die mir persönlich auch nicht lieb sind, die jedoch nichts an den gemeinsamen Zielen ändern.

Dass ich an dieser Stelle für die Fahrlässigen und Stolpernden Entschuldigungen und auch mögliche Persönlichkeitsstörungen anführe, soll eine Brücke bauen. Denn nicht jeder Mensch, der so in die Politik unter den neuen medialen Bedingungen geworfen wurde, kann jederzeit die Folgen seines Handelns überblicken und jeden seiner Affekte zurückhalten. Die Partei der Laien braucht hier gelegentlich Vergebung, um einer Selbstreflektion nicht im Wege zu stehen.

Womit müssen wir nun rechnen?

Das Eingeständnis, selber etwas falsch gemacht zu haben, gehört zu einer erfolgreichen Besserung leider dazu. Bei den Expiraten wird dies ein sehr sehr langer Prozess, auf den wir uns da einstellen müssen. Ich frage mich manchmal, mit wem diese Aristokraten noch reden, ob sie sie sich noch mit Mitgliedern auseinandersetzen, in welchen Kreisen überhaupt noch Austausch stattfindet. Denn ich vermute leider, dass sie das Abziehbild einer homogenen, irgendwie bösen Partei weiterhin für sich benötigen und nichts mehr diesen Eindruck stört. Für sie sind wir etwas sehr falsches, von dem sie sich distanzieren und schließlich dann emanzipieren müssen.

Dieses sehr selbstbezogene und dabei in der Natur der Sache auch sehr rücksichtslose Vorgehen kann meiner Meinung nach nur möglich sein, da der Kontakt zu den einfachen Aktiven und zart neu politischen Menschen, die mit uns um Themen herum arbeiten wollten, eben irgendwann fehlte. Menschen, die man als gesichtslosen Kollateralschaden bisher in Kauf nehmen konnte. Auch deshalb wünsche ich all den Expiraten schnell neue, positive, konstruktive Tätigkeiten an anderer Stelle und einigen auch eine professionelle Begleitung, die ihnen auf dem Weg der Loslösung hilft und beisteht. Nichts wäre doch schlimmer, als ein Kopf ganz ohne Thema außer der alten Partei: Eine solche Armseligkeit wünsche ich niemandem.

Und auch wir als Piraten müssen den ehemaligen Scharfmachern und notorischen Prollposaunen gelegentlich zugestehen, dass sie da einen schwierigen Prozess durchmachen und weiterhin Menschen sind, die in dieser Identitätskrise unser Verständnis und Mitgefühl brauchen, auch wenn sie uns dabei beschimpfen. Denn wer wie sie Jahre seines Leben dieser Partei gewidmet hat, der braucht nach dem Bruch nun mal seine Zeit, um sich von ihr tatsächlich zu lösen. Das ist völlig normal, zwar schmerzhaft für beide Seiten, aber normal.

Ich wünsche euch alles Gute, auch wenn das umgekehrt nicht der Fall ist. Ihr habt es nicht leicht, Expiraten.

Lebt wohl.

Ich halte einen Spion in meinen Händen

Die letzten Tage überschlugen sich einige Medien mit Geheiminformationen aus Regierungskreisen. Nein, das war unpräzise formuliert: ALLE Medien berichteten über einen echten Spion in Deutschland. Eine Person in Diensten des Bundesnachrichtendienstes soll für ausländische Geheimdienste – dies habe er so zugegeben – den NSA-Untersuchungsausschuss ausspioniert haben. Erst musste ich schmunzeln, dann lachen, dann etwas weinen, dann grübeln und habe es schließlich mit Fassung getragen, so wie dieser komische Norbert Fromm Lammert von der CDU. Für meine widersprüchlichen Gefühle gibt es einige Anlässe.

Fangen wir mit der Armseligkeit unserer Medien an. Seit über einem Jahr sprechen wir (nicht nur wir Piraten) von Massenüberwachung und Spionage, die jeden einzelnen Menschen in diesem Land betrifft und unser Staatswesen sowie alle deutschen Unternehmen sowieso. Das Thema war ungreifbar diffus und der Nachrichtenwert sank mit jeder weiteren, inflationären Enthüllung über das Ausmaß und die Methoden der Ausspähung und Infiltration. Ohne das Narrativ des Superhelden Snowden hätten sich diese Meldungen niemals über eine so lange Zeit in den Nachrichten gehalten. Normalerweise spricht man von einem maximalen Nachrichtenzyklus von drei Wochen. Und jetzt hat der Journalismus wieder ein Wesen aus Fleisch und Blut gefunden, das er greifen kann, dessen Verhaftung gar möglich ist, der doppelspioniert, als sei es Nineteenninetytwo. Dass diese Geheiminformation aus Regierungskreisen einzelne Journalisten erreichte (Nein, nicht nur an ein Medium wurde sie gestreut: An „Süddeutsche Zeitung“, an den NDR und auch an den WDR: zur Sicherheit), hat den Redakteuren wohl regelrechte Exklusivitätsschauer den Rücken hinunterlaufen lassen. Spionage in Deutschland und die Bundesregierung tut etwas dagegen? Das ist natürlich eine besondere Meldung, muss auch ich als Pirat zugegeben. Trotzdem ist diese Meldung selbstverständlich ausgeklügelte Regierungs-PR, wie ein kritisch denkender Mensch bereits im ersten Moment hätte feststellen können. Zudem gab es auch nur eine Quelle: die Bundesregierung. Sowas sollte man schnell ins Internet drucken und sich weiterhin unabhängig nennen. Versteht ihr jetzt, warum ich den Begriff ‚armselig‘ benutzt habe? Wir erleben ein großes Ablenkungsmanöver und viele spielen mit.

Kommen wir zu einem weiteren lächerlichen Punkt: Ein Untersuchungsausschuss soll Geheimdienstaktivitäten, von denen jeder in Deutschland und weltweit weiß, überprüfen und tut dies geheim, damit deutsche und ausländische Geheimdienstaktivitäten weiterhin geheim bleiben. Und ein ausländischer Spion schleicht sich ein, um herauszufinden, wie viel der Untersuchungsausschuss von den ausländischen Geheimdienstaktivitäten festgestellt hat, von denen jeder in Deutschland und weltweit weiß. Diese Information ist wiederum offiziell als geheim eingestuft, damit keiner außerhalb des BNDs und der Bundesregierung erfährt, dass der BND infiltriert und ausspioniert wird, wie jeder in Deutschland und weltweit.

Um die Absurdität dieses Sachverhalts zu unterstreichen, wiederhole ich diesen Absatz noch mal:

Ein Untersuchungsausschuss soll Geheimdienstaktivitäten, von denen jeder in Deutschland und weltweit weiß, überprüfen und tut dies geheim, damit deutsche und ausländische Geheimdienstaktivitäten weiterhin geheim bleiben. Und ein ausländischer Spion schleicht sich ein, um herauszufinden, wie viel der Untersuchungsausschuss von den ausländischen Geheimdienstaktivitäten festgestellt hat, von denen jeder in Deutschland und weltweit weiß. Diese Information ist wiederum offiziell als geheim eingestuft, damit keiner außerhalb des BNDs und der Bundesregierung erfährt, dass der BND infiltriert und ausspioniert wird, wie jeder in Deutschland und weltweit.

Wo ist eigentlich Kafka, wenn man ihn braucht?! Ich will ihn als Prozessbeobachter.

Und nun zu einem letzten lächerlichen, für mich aber zentralen Punkt: Ich halte just in diesem Moment einen Spion in meinen Händen, lieber BND. Früher nannte man diese Dinger Telefon. Diese Information muss nun nicht mehr über Regierungskreise geleakt und über Journalisten als Durchlauferhitzer an die Öffentlichkeit gelangen: You’re welcome. Und nein, ich muss auch kein Spion sein, um dies zu wissen. Die Piraten haben oft genug darüber berichtet und sie tun dies auch weiterhin regierungsfern, liebe Journalisten: You’re welcome.

Also lasst den Spion bitte laufen: Er macht längst keinen Unterscheid mehr. Auch er wird euch in diesem Moment in seiner Zelle auslachen und ich lache mit ihm. Ringt nicht um Fassung: Tut etwas!